Eine Autobiografie in Bildern – Roberto Savianos Leben im Ausnahmezustand

November 2021 | Lesestoff

Ein Comicprojekt, das vom Dialog zwischen Zeichner und Texter lebt

Wie lautet das Gegenteil von schweigen? Am Leben bleiben? Das ist sicherlich die erste Voraussetzung, um das Schweigen brechen zu können. Um sich Gehör zu verschaffen, muss man zudem den Kopf über Wasser behalten.

Beides – am Leben zu bleiben und gehört zu werden – gelingt Roberto Saviano, trotz schwieriger Voraussetzungen.

Eindrücklich schildert dies „Sono ancora vivo (Ich lebe noch), sein im Oktober 2021 in Italien erschienener autobiografischer Comic. Das Titelbild der italienischen Ausgabe zeigt Roberto Saviano, der zu ertrinken droht. Die Abbildung erinnert dabei an die italienische Redewendung: Acqua in bocca (wörtlich Wasser im Mund), was einem Redeverbot gleichkommt und etwa zu übersetzen wäre mit „kein Wort darüber“. 

Abbildungen mit freundlicher Genehmigung:
©Bao Publishing, Mailand, „Sono ancora vivo” von Roberto Saviano und Asaf Hanuka, erschienen im Oktober 2021
Das Aufmacherbild oben zeigt den sozialen Brennpunkt Scampia, einen Stadtteil von Neapel [S. 18–19 im Comic].

Im Widerstand gegen die Mafia wird das Wort zu seiner bedeutsamsten Waffe

Bekannt wurde Roberto Saviano, 1979 in Neapel geboren, durch sein erstes Buch „Gomorrha“ (erschienen 2006): Ein Roman, der über Genregrenzen hinweg gleichzeitig Doku-Fiktion und investigatives Mafia-Enthüllungsbuch ist. Es wurde zum Bestseller, ist in 52 Sprachen übersetzt und wurde verfilmt. Saviano ist seitdem als Journalist und Autor eine wichtige Figur in der Medienlandschaft mit zahlreichen weiteren Büchern, Zeitungsartikeln, öffentlichen Auftritten und Interviews. Als junger Journalist recherchierte er in Neapel, nahm Mafiagruppierungen ins Visier und wurde dadurch selbst zur Zielscheibe.

Der Comic zeichnet nach, was es bedeutet, das Schweigen der Mafia zu durchbrechen. Im Falle von Roberto Saviano heißt das seit 15 Jahren Personenschutz, Bombenspürhunde, wechselnde Orte sowie weitreichende Konsequenzen auch für Freunde und Familie. Den Grund für Morddrohungen bilden weniger seine Veröffentlichungen zu internationaler Wirtschaftskriminalität und organisiertem Verbrechen, da vieles eigentlich bekannt ist. Als brisant erweist sich vielmehr die große Aufmerksamkeit, die er mit seinen Publikationen erzielt.
Roberto Saviano schreibt und veröffentlicht viel. Aber zu seiner schwierigen Situation, dem isolierten Leben unter Polizeischutz und den fortwährenden Bedrohungen, fehlen ihm die Worte. Erst mit dieser Graphic Novel werden auch die Seiten seines Lebens geschildert, über die Saviano bisher nicht sprechen konnte. „Il fumetto mi ha permesso di raccontare quello che non riesco a raccontare.“ (Der Comic hat mir ermöglicht zu erzählen, worüber ich nicht reden kann.)

 

Der große Vorteil des Comics: Es braucht nicht viele Worte.

Roberto Saviano spielte mit seinem Bruder gern Tischfußball, „Subbuteo“. Die Leichtigkeit, mit der die Figuren dort per Fingerschnipp bewegt werden, steht im starken Kontrast zum Leben unter Personenschutz.
[©Bao Publishing, Mailand: Auszug aus dem Comic „Sono ancora vivo” von Roberto Saviano und Asaf Hanuka, S. 8–9]

Die plakativen Zeichnungen sprechen für sich. Über wirkungsvoll zurückhaltend kolorierte Panels kann das schwer in Worte zu Fassende gut transportiert werden. Und die Freiheit des Comics bedeutet auch, Szenen zeigen zu können, zu denen es keine Fotos gibt. Dieser Comic ist durch eine Zusammenarbeit von Zeichner und Schriftsteller entstanden, eine Aufteilung, die eigentlich immer von Vorteil ist. Und hier wird ganz besonders deutlich: Erst die Bilderfolgen von Asaf Hanuka, preisgekrönter Comiczeichner und Illustrator aus Israel, ermöglichen im Perspektivwechsel die Erzählung.

Der Band besteht aus kurzweiligen Kapiteln, die um zwei zentrale Themen kreisen: überleben, obwohl man kriminelle Machenschaften und Namen benennt, und die Wirkung von Worten. Eingangs wird nachvollziehbar, was Roberto Saviano als Heranwachsenden bewog, Position gegen die Mafia zu beziehen. In seinem Heimatort Casal de Principe nahe Neapel erlebte er, wie der Priester Giuseppe Diana sich Weihnachten 1991 mit einem offenen Brief klar gegen die Camorra stellte, die kriminelle Organisation in der Region Kampanien, die ihn daraufhin wenige Wochen später brutal ermorden ließ.

[©Bao Publishing, Mailand: Auszug aus dem Comic „Sono ancora vivo” von Roberto Saviano und Asaf Hanuka, S. 38–39]

Wer tiefer in die Geschichte Savianos und in die Geschehnisse einsteigen will, hat es mit diesem Comic nicht so leicht. Viele Blocktexte geben einen Rahmen für die Szenen, diese lassen sich jedoch ohne Vorwissen nicht gänzlich entschlüsseln. Erschwerend kommt hinzu: Das computergenerierte Lettering, mit kleiner, sehr enger Schrift, fordert den Leser.
Im Vordergrund dieser Autobiografie stehen klar Savianos Engagement im Widerstand gegen die Mafia und die daraus resultierenden unumkehrbaren Konsequenzen für sein Leben.

Saviano beschreibt sich als Märtyrer, der nicht gestorben ist.

Saviano eröffnet eine Analogie zu Giovanni Falcone, Jurist und Symbolfigur für den Kampf gegen die Cosa Nostra in Sizilien, der 1992 durch ein Bombenattentat auf der Autobahn bei Palermo ums Leben kam. Er zitiert ihn mit „Per essere credibile bisogna essere ammazzati?” (Muss man, um glaubhaft zu sein, umgebracht werden?). Saviano konnte seine Arbeit fortsetzen und viel bewirken, trotz seines Daseins, das ihm schwieriger erscheint als das eines untergetauchten Mafiamitglieds. Er ist auch nicht der Einzige, der als „wandelnde Leiche“ bezeichnet wird: Ein Gespräch mit Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando übertitelt die Printausgabe Der Freitag (21. Oktober 2021) mit „Ich bin noch hier“.

Was irritierend wirkt: Auf dem Titelbild des Einbands verharrt der Autor unbeweglich. Nimmt er den Untergang in Kauf? In einem Interview des Corriere della Sera vom 21. Oktober 2021 bringt Saviano die Hoffnung zum Ausdruck, sich mit dieser Erzählung aus seiner misslichen Lage befreien zu können – indem er Saviano, der zur Antimafia-Symbolfigur geworden ist, sterben lässt:
Il primo passo è proprio questo fumetto che è un’esecuzione di Saviano. Dico basta, questa è stata la storia di Saviano, adesso vado a riprendermi la storia di Roberto. Mi tolgo il cognome per togliermi il simbolo.“
(Der erste Schritt ist dieser Comic, der einer Hinrichtung Savianos gleichkommt. Ich sage, es reicht; das war die Geschichte von Saviano, jetzt hole ich mir die Geschichte von Roberto zurück. Ich lege den Nachnamen ab, um mich der Symbolfigur zu entledigen.)

Nachdem alle Bücher von Roberto Saviano ins Deutsche übersetzt wurden, wird sicherlich auch eine deutsche Ausgabe dieser Graphic Novel erscheinen. Da für die Übersetzung häufig ein anderer Bucheinband gewählt wird, darf man gespannt sein, wie die Titelseite für den deutschen Markt aussehen wird.

Comic oder Graphic Novel?

Auf die Fragen, was ein Comic ist und worin sich Graphic Novel und Comic unterscheiden, erhält man verschiedene Antworten.

Klar ist nur: Deutschland ist nicht das Land des Comics. Die Vorstellung, dass Comics viel mehr bieten als Komik, setzt sich erst langsam durch.
Charakteristisch sind natürlich die Sprechblasen, im Italienischen Fumetti (Rauchwölkchen) und in Italien die Bezeichnung für diese Kunstform.

Der Kombination von Schrift und Bild, in „sequenzieller Kunst“, sind weder Form noch Inhalt Grenzen gesetzt – vom Zeitungscomic über Comichefte bis zur gebundenen Buchform, meist Graphic Novel genannt.

Das Verständnis von Comics ist im Wandel begriffen. Darauf geht die Comicforschung ein:
Comic. Kommentierte Definition. Von Eckart Sackmann
„Comics pauschal als Trivialliteratur zu bezeichnen, ist nach den Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte nicht mehr zulässig. […] Der moderne Comic bedient sich aller erdenklichen Genres (z. B. Humor, Abenteuer mit diversen Subgenres, Biografie, Erotik, Reportage, Gebrauchsanweisung) und nutzt dazu diverse Gattungen vom kurzen Strip bis hin zum Comicroman, dem Zyklus oder der Endlos-Serie.“ 

Zum Weiterlesen:

  • Ein zweiter Comic von Roberto Saviano erscheint im November 2021 bei Feltrinelli: eine Adaption seines Buches La paranza dei bambini, auf Deutsch Der Clan der Kinder, Hanser Verlag, München 2018, aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki; 2019 auch als Film erschienen
  • Deutsche Ausgabe von Gomorra
    Roberto Saviano: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra. Aus dem Italienischen von Friedrike Hausmann und Rita Seuß. Hanser Verlag, München 2007. 367 Seiten, 21,50 Euro.
  • Christiane Conrad von Heydendorff: Roberto Saviano: Eine Autor-Figur zwischen Literatur und neuen Medien. Innokentij Kreknin u. Chantal Marquardt (Hg.): Das digitalisierte Subjekt. Grenzbereiche zwischen Fiktion und Alltagswirklichkeit. Sonderausgabe #1 von Textpraxis. Digitales Journal für Philologie (2.2016), S. 181—201.

Wer schreibt hier?

Maren Paetzold 

Ich übersetze aus dem Italienischen. Comics sind für mich ein ideales Medium, meine Leidenschaft für die Architektur, insbesondere Zeichnung und Bildwirkung, mit Sprache zusammenzubringen. Seit meiner Teilnahme an einem Seminar zum Übersetzen von Comics im LCB Berlin, Stipendium Deutscher Übersetzerfonds / Deutscher Comicverein, schaue ich umso neugieriger auf die Neuerscheinungen in Deutschland und Italien.

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Maren Paetzold
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