Gut, es braucht schon eine Mehrtagesreise, um mit leichtem Sportrad von meiner Heimatstadt Hannover die knapp 350 Kilometer bis nach Frankfurt zurückzulegen. Ich pedaliere zwar gern auf Asphalt, meide aber lieber den motorisierten Verkehr. Also kommen Laufräder mit möglichst breiter Gravel-Bereifung zum Einsatz, und es geht über Wirtschafts- und Waldwege gen Süden. Der höchste Punkt der Tour, 507 Meter über NHN, wäre schon in der ersten Etappe im Solling erreicht. Insgesamt kommen jedoch mehr als 3000 Höhenmeter zusammen – Weserbergland und nordhessisches Mittelgebirge sorgen für viel Auf und Ab.
Die geeignete Übersetzung – nur eine Frage von technischer Entwicklung?
An steilen Anstiegen zeigt es sich dann: Passt die Übersetzung? Ist der leichteste Gang klein genug, damit ich auch in unebenem Gelände noch flüssig bergauf pedalieren kann? Warum muss ich in solchen Momenten niedrigerer Trittfrequenz immer über die Doppeldeutigkeit des Wortes Übersetzung sinnieren, statt mich nur auf das konstante Pedalkreisen zu konzentrieren? Sicherlich eine berufliche Prägung. Auf Italienisch stehen zwei schöne Wörter zur Verfügung: traduzione und rapporto. Im Deutschen kommt es klar auf den Kontext an, wann die Text-Übersetzung gemeint ist, die Übertragung von einer Sprache in die andere, und wann die Fahrrad-Übersetzung, also das Größenverhältnis von Kettenblatt zu Ritzel.
Wenn ich länger im Sattel sitze, kommen mir oft die Erzählungen einer auf Radreisen spezialisierten italienischen Journalistin und Bloggerin in den Sinn: Mariateresa Montaruli hat mich nicht nur mit ihrem 2021 erschienen Buch Ho voluto la bicicletta sehr inspiriert, auch ihr Blog und ihre in Italien herausgegebenen Radreiseführer gaben die Anregung zu einigen meiner schönsten Radtouren durch das Belpaese.
Da ihre wunderbaren Texte und die vielen lohnenswerten Tourentipps abseits der populären touristischen Ziele für Deutsche unbekannt sind, wollte ich dem Buch den Weg auf den deutschen Buchmarkt ebnen: 2023 konnte ich mit einem Übersetzungsauszug ein Stipendium beim Deutschen Übersetzerfonds einwerben, um das Initiativprojekt so weit zu bearbeiten, dass ich es deutschen Verlagen vorstellen konnte. Die Reaktionen waren durchaus positiv, nur leider brachte der unerwartete und viel zu frühe Tod der Autorin das Projekt vorerst zum Stillstand.
Während der Arbeit an der Buchübersetzung stellte sich ebenso die Frage: Passt meine Übersetzung? Oder, wie zurzeit viel diskutiert, lösen mich schon heute KI und Large Language Models ab? Zu dieser Frage hat die Verlegerin Alessandra Ballesi-Hansen eine klare Haltung: „Ich bin absolut der Meinung, dass Übersetzerinnen und Übersetzer unersetzbar sind und dass die KI auf keinen Fall so gut Literatur übersetzen kann wie eine echte Person.“ Die Gründerin des just mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichneten nonsolo-Verlags stammt aus Rom und fand durch die Romanistik der Universität Freiburg eine zweite Heimat in Deutschland. Ihr Verlag bringt ausschließlich vom Italienischen ins Deutsche übersetzte Bücher heraus, daher ist die Frage der Übersetzung natürlich sehr relevant für sie.
Die Frankfurter Buchmesse als Ziel einer Radreise?
Die Grenzen und Möglichkeiten von automatischer Übersetzung sind auch in diesem Jahr ein heißes Thema der Buchmesse. Meine Überzeugung: Technische Entwicklungen sind wertvoll, ersetzen aber keinesfalls langes Training und menschliche Fähigkeiten, genauso wenig wie beim Radfahren.
Im Gepäck habe ich ein kleines deutsch-italienisches Präsent: Für den Ehrengast Italien der Buchmesse 2024 und in Erinnerung an die italienische Autorin Mariateresa Montaruli möchte ich einen kleinen Auszug ihrer heiteren Texte und ihres frischen Blickes auf Frauen im Radsport vorstellen – von mir in bewährter Humanübersetzung ins Deutsche übertragen.
Das Buch von Mariateresa Montaruli: Ho voluto la bicicletta
Montaruli, Mariateresa, Ho voluto la bicicletta. Itinerari e storie di ciclo-geografia per appassionati, curiosi ed esperti, Vallardi Mailand, 2021, 228 Seiten
(Gebt mir ein Fahrrad. Italiens Radlandschaften und Routen für Enthusiasten, Neugierige und Experten)
Mariateresa Montaruli schreibt frisch, humorvoll und informativ. Ihr Augenmerk liegt auf Radfahrerinnen und auf wenig bekannten Strecken. Sie teilt Erfahrungen und Empfehlungen für sportliches Radfahren. Sie beschreibt Strecken für Straßenräder und geländegängige Bikes durch viele Regionen Italiens und erzählt von der Kultur, der Gastronomie und der Historie der Orte. Ihre Tourberichte vermitteln das Vergnügen, durch Landschaften zu radeln und bei diesem langsamen Reisen neue Perspektiven zu erlangen sowie Temperatur, Geräusche und Gerüche unmittelbar wahrzunehmen. Man möchte sich am liebsten gleich in den Sattel schwingen und die Regionen und Routen selbst erkunden.
Mein Dank gilt den Rechteinhabern des italienischen Originals für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung eines Ausschnitts auf Deutsch.
Der folgende von mir ins Deutsche übertragene Ausschnitt ist dem zweiten Kapitel entnommen, Cose che ho imparato con la bicicletta (Was ich beim Radfahren gelernt habe) und lautet im Italienischen: Mai superare un uomo in bici. La regola n.1 del metodo ciclistico per essere moderatamente felici [S. 25–27]
Überhole niemals einen Mann!
Regel Nummer 1, um am männlich geprägten Radsport Vergnügen zu finden
Ich habe ganz verschiedene Typen von Radfahrern getroffen: Die einen trainieren dich für die Eroica, einen Rundkurs auf historischen Rennrädern, lassen dich aber schon kurz nach dem Startort Gaiole in Chianti zurück, weil du keinen 35er-Schnitt fährst. Die anderen spornen dich nach 77 strapaziösen Streckenkilometern weiter an, damit du deine ersten 100 schaffst. Es gibt Radsportler, die deine Beine und deinen Po bestaunen – in reinen Männergruppen schaut man zuerst aufs Fahrrad. Manche erkennen dich auf dem Radweg entlang des Kanalufers am Naviglio Grande gegen jede Wahrscheinlichkeit selbst dann, wenn du maskiert wie eine Superheldin und mit triefender Nase niemanden treffen möchtest. Dann gibt es welche, die dir bei der Pastaparty des Radmarathons Maratona dles Dolomites erzählen, dass sie mit dem Radprofi Francesco Moser in Brasilien pedalieren werden, du aber nicht mitkommen kannst – nicht weil du zu langsam fährst, sondern weil es dort gefährlich ist.
Seitdem ich Rennrad fahre, bin ich vielen Männern begegnet. Manch einer verweigert sich allen Trends und ist auf einem Single-Speed unterwegs oder hat Opas Stahlross aus dem Keller geholt. Da sind Bikesharing-Fans, die ohne den Laptop im Rucksack nicht aufs Rad steigen und um jedes Schlagloch einen Bogen machen. Fahrradkuriere, die immer rechts überholen. Rentner über 70, die in ihren verblassten Trikots der Traditionsmarken Bianchi oder Mapei trotz knackender Gelenke jeden Tag trainieren. Manch einer schwört auf schmutzabweisende Pflegemittel für den Rahmen und lädt das Fahrrad aus Sorge, sich die Hände dreckig zu machen, nur mit Handschuhen ins Auto. Und dann gibt es welche, die sich in superenge Polyestertrikots zwängen und je nach Statur Bauch oder Sixpack zur Schau stellen. Es gibt den Fahrer, der aus einem speziellen, nur ihm bekannten Radgeschäft das allerneueste Funktionsshirt hat – das einzige, das im Winter ohne Schwitzkur warmhält. Die einen kommen immer zu spät oder müssen zum Mittagessen zu Hause sein und nutzen deshalb jede Abkürzung. Andere lauern nur auf die nächste Kaffeepause. Es gibt den Radfahrer, der auf einer Tour dreimal nacheinander eine Reifenpanne hat, und den, der aus Sorge, es könnte zu kalt sein, lieber eine Schicht mehr anzieht und dann nie weiß, wohin mit den abgelegten Sachen. Derjenige, der unaufgefordert Ratschläge gibt: Atme durch die Nase, nimm den kleineren Gang, du musst hochschalten, warum nutzt du nie das große Blatt? Ich habe auch vermeintliche Vintage-Fahrer getroffen, die seit Jahren keinen neuen Fahrradschlauch mehr gekauft haben und Löcher in Trikots und Hosen wie Trophäen vorzeigen. Am unbegreiflichsten sind mir die, die nie ihre Trinkflasche auswaschen, weil sie meinen, reife Bakterienstämme seien ebenso in Mode wie Retro-Fahrräder.
Aber ganz unabhängig davon, welcher Typ dir beim Rennradfahren begegnet – es zählt nur eines: Überhole niemals einen Mann! Nie wird er so erschöpft oder so erfreut von deiner wohlgerundeten Kehrseite sein, dass er angesichts des Affronts nicht im nächsten Augenblick mit scheinbarer Lässigkeit zum Überholen ansetzt. Er kommt unauffällig näher und zieht dann entschlossen an dir vorbei, ohne dich auch nur eines Blickes zu würdigen. Anfangs war ich noch amüsiert: Natürlich bist du schneller, wenn ich auf einem Modell aus den Siebzigerjahren in die Pedale trete. Manchmal bin ich auch absichtlich langsamer gefahren. Warum nicht mal großzügig sein? Schließlich sollten wir einander doch immer verständnisvoll begegnen.
Radfahrer sind in der Regel sehr freundlich. Aufmerksam bieten sie dir an, dich ein Stück im Auto mitzunehmen, sie pumpen dir die Reifen auf, helfen beim Schlauchwechsel und teilen den Energieriegel mit dir, um dir aus dem Hungerast zu helfen. Was macht es schon, dass sie wie alle Männer einen Kontrollverlust auf unbekanntem Terrain lieber vermeiden. Nach einiger Zeit begriff ich, dass radfahrende Männer in erster Linie viel schwitzen, ausgeglichene und stressresistente Naturen sind und sogar im Bett Ausdauer beweisen. Anstrengung ist für sie schlichtweg nicht negativ besetzt, sondern erstrebenswert und sogar ein Vergnügen. Eines Abends wollte ich meinen fahrradbegeisterten Liebsten auf die Probe stellen und fragte ihn, ob ich mich auf die Stange seines Rades setzen und er mich auf die andere Seite der Stadt bringen könnte. Ohne mit der Wimper zu zucken, erwiderte er: »Können wir versuchen. Aber dann müssen wir eine Stunde mehr einplanen …«.