Architektonisches Erbe in Rom: Die „Palazzina romana“ – ein Bautypus im Kontrast zur Historie

Februar 2024 | Lesestoff, Ortstermin

Unterschiedlicher könnte ein Stadtgrundriss kaum ausfallen: die enge Altstadt von Rom mit der Blockbebauung (nahe Piazza Navona) im maßstäblichen Vergleich zu einem Wohnviertel mit freistehenden Gebäuden (Stadtteil Parioli, exemplarisch für die Bebauung mit Palazzine).

Dass Rom so sehr mit dem Bild antiker Bauten verbunden ist, liegt an deren Qualität. Und natürlich beeindruckt auch ihre Anzahl und Größe. Dabei besteht die heute rund 1.290 Quadratkilometer umfassende Stadt Rom – im Vergleich zu den etwa 25 Quadratkilometern der Città antica – vorwiegend aus Bauten moderner Zeit. Noch bis zur Einheit Italiens 1861 genügte der Platz innerhalb der Aurelianischen Stadtmauern, die seit 275 n. Chr. alle sieben Hügel, das Marsfeld und das Viertel Trastevere umfassten. 

Plan der Stadt Rom von 1838, wie sie sich im Prinzip bis 1870 zeigte. [Quelle: Wikipedia]

Als Rom 1871 neue Hauptstadt wurde, begann – zuerst innerhalb des Mauerrings – eine rege Bautätigkeit, und bald dehnte sich die Stadtfläche mit dem steigenden Zuzug neuer Einwohner aus. Eine wesentliche Stadterweiterung ging dann mit dem Aufschwung der 1950er- und 60er-Jahre und der starken Landflucht einher: Um der erheblich steigenden Einwohnerzahl zu begegnen, entstanden die modernen Wohnquartiere, es gab einen regelrechten Bauboom der Wirtschaftswunderjahre.

Interpretation der Moderne, aber fragmentierte Urbanität?

Normalerweise verbindet man italienische Städte mit ihren Plätzen und Gassen, also mit klar definierten bebauten und unbebauten Räumen, mit städtischer Dichte und geschlossen Raumkanten. Die Stadtstruktur der Erweiterungsviertel zeigt sich aber von ganz anderer Art, denn dort setzten sich für die Wohnbebauung freistehende Gebäude durch.
Neue Flächennutzungspläne, die in Rom 1873 eingeführt wurden, und die Bauvorschriften begünstigten diese Entwicklung in mehreren Schritten. Der Piano Regolatore jener Zeit sah eine Einteilung in Zonen vor und traf Festlegungen für zulässige Bauten. Vorgegeben wurde nicht die Bebauungsdichte über Indici di edificabilità, wie es heute in Italien üblich ist, sondern maximale Gebäudehöhen und Mindestabstände.

Das freistehende Wohnhaus erfreute sich großer Beliebtheit

Die Gebäudekategorie des Villino – ein Einfamilienhaus mit umgebendem Grün – entwickelte sich seit der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts als Wohnhaus wohlhabender Bürger. Es war zu Beginn des 20. Jahrhunderts so sehr gefragt, dass der Piano Regolatore von 1909 diesen Bautypus aufgriff und für die Errichtung dieser maximal dreigeschossigen Bauten geeignete Flächen auswies. Angesichts der Wohnungsnot nach dem 1. Weltkrieg wurden dann, als ursprünglich nur temporär geplante Abweichung zum geltenden Piano Regolatore, auf allen für Villini vorgesehenen Flächen größere Wohnhäuser zugelassen: Ab 1920 gestattete die neue Gebäudekategorie Palazzina, ein Viertel der Grundstücksfläche zu überbauen, bei Grenzabständen von mindestens 5,80 Meter; zudem durfte das Haus direkt an die Straßenflucht gestellt werden. Zulässig waren vier Geschosse sowie eine zurückgesetzte Dachetage, eine Gebäudehöhe von maximal 19 Metern sowie eine Straßenfront mit maximal 25 Metern Länge. Im Erdgeschoss konnten Läden eingerichtet werden.
Dieser Baustil hatte großen Erfolg im privaten Wohnungsbau: Es war bei Bauherren und Bewohnern gleichermaßen beliebt, wurde zum bevorzugten Bautypus des Bürgertums und prägt bis heute ganze Quartiere wie Balduina und Parioli, nördlich des Stadtzentrums, oder Monteverde im Südwesten.

Während meiner römischen Jahre kam ich fast täglich im Viertel Monteverde Nuovo an einer Palazzina Morettis entlang. Die Straße ist nicht sonderlich breit, der Verkehr meist rege. Die ursprünglich weiße Fassade ist heute ockerfarben, das Erscheinungsbild leider sehr heterogen, die einzelnen Wohnungseigentümer entschieden sich für unterschiedliche Fenster und Markisen. Aber die skulpturale Straßenfassade macht auf sich aufmerksam.

Palazzina della Cooperativa Astrea, 1947‑1951, Arch. Luigi Moretti
Via Edoardo Jenner 27, 00151 Roma

Publikationen zur römischen Palazzina

In der Architekturgeschichte bekommt dieser Gebäudestil nur wenig Aufmerksamkeit. Es sind eher die Bauten einzelner italienischer Architekten dokumentiert. Der von der Antike bis zur Moderne reichende Architekturführer Rom von Stefan Grundmann (1997 erschienen) behandelt immerhin zwölf Palazzine, mehr als vierzig zeigt der italienische Architekturführer Roma. Guida all’architettura moderna. 1909–2011 von Piero Ostilio Rossi (2012 erschienen).
2016 erschien ein interessanter Band, herausgegeben von Prof. Alfredo Passeri, der bisher nur auf Italienisch vorliegt: LA PALAZZINA ROMANA…irruente e sbadata

Um das Wissen auch in Deutschland wachzuküssen, wurde erfreulicherweise nun ein schöner Band veröffentlicht, der die Palazzina romana ganz in den Mittelpunkt stellt:

Rosa Reihe, Band 12<br /> Rom. Häuser der Stadt 1920–1980

Rosa Reihe, Band 12
Rom. Häuser der Stadt 1920–1980
herausgeben von Dietrich Fink und Stefan Imhof (Lehrstuhl für Städtische Architektur, TU München)
erschienen 2023, deutsche und italienische Texte,
Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln

Ich hatte die Freude, den auf Italienisch verfassten Essay von Prof. Valerio Palmieri, „L’invenzione della palazzina / Die Erfindung der Palazzina“, ins Deutsche übertragen zu dürfen. Zur Frage der Urbanität betont er: „So konnte ein architektonisches Gebilde, das von den Grenzen seines Grundstücks losgelöst als autonomes und individuelles Bauwerk generell nicht urban ist, wie Kritiker wiederholt betonten, ganze Stadtteile mit öffentlichen Räumen von ausgewogener Qualität bilden, die in vielerlei Hinsicht einem Vergleich mit der historischen Stadt standhält.“

Der kleine Band dokumentiert einundzwanzig Palazzine, über eine Zeitspanne von 1922 bis 1974 nach Baujahr geordnet – mit eigens erstellten Grundrissen und aktuellen Fotografien.

Deutlich werden in dem Buch neben der gestalterischen Evolution besonders das Potenzial und die Vielfalt, die sich mit dieser Gebäudekategorie für die Architekten eröffnete. Darunter Namen wie Luigi Moretti, Ugo Luccichenti oder Bruno Zevi. Die sehr heterogenen Bauten, mal experimentell, mal der rationalen Architektur verschrieben, haben eines gemeinsam: Das bis dahin übliche Ornament der Fassaden wird abgestreift wie ein altes Kleid.

Manches Gebäude ist mir aus meiner Zeit in Rom vertraut, andere will ich bei einem nächsten Aufenthalt neu entdecken. Schade, dass im Buch keine näheren Angaben zu Adressen zu finden sind. In der Regel sind die Häuser aber so bekannt, dass Suchmaschinen oder Online-Kartendienste schnell weiterhelfen.
Wer vorerst nur virtuell nach Rom reisen kann, dem sei empfohlen, sich Palazzine auf der Website ArchiDiAP anzuschauen, einem Gemeinschaftsprojekt des Dipartimento di Architettura e Progetto, Universität La Sapienza in Rom.

Wortherkunft: auch der Begriff Palazzina ist eine römische Erfindung

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte der Flächennutzungsplan in Rom für Wohnbauten definierte Gebäudetypen mit konkreten Bezeichnungen ein: Neben Fabbricati, bis 24 Meter hohe acht- bis zehngeschossige Gebäuden, und Villini, maximal dreigeschossigen Wohnhäusern, wurden die mittelgroßen Bauten Palazzina getauft.
Das Wort Palazzina ist auf das antike Rom zurückzuführen: Es bezeichnete ein kleines Wohngebäude, das zu einer antiken römischen Villa gehörte, eine Anlage aus mehreren Gebäuden. Palazzina ist ein Diminutiv von Palazzo, wortwörtlich also ein Palästchen, ein verkleinerter Villenbau.

Schlägt man das Wort im Dizionario Italiano Sabatini Coletti nach, findet sich, neben dem Verweis auf die Vorgängerbauten Villetta und Villino, die Definition eines eleganten mehrgeschossigen Wohngebäudes, das Abstand zur Nachbarbebauung aufweist.

Un tempo, villetta, villino; oggi, elegante casa plurifamiliare a più piani e con più appartamenti per ogni piano, ben distaccata dagli edifici circostanti
[Quelle: dizionari.corriere.it]

Die Baugeschichte der Palazzina hat der Wortgeschichte gar einen Begriff geschenkt: Während der starken Ausweitung der Stadt wurde reichlich mit Grund und Boden spekuliert, es entstanden auch viele Bauten minderer Qualität, die sich des Bautypus des freistehenden Wohngebäudes bedienten. Einen Bau- oder Immobilienunternehmer, der sich durch zweifelhafte Methoden bereicherte, nannten die Römer in jenen Jahren daher Palazzinaro – was sich mit ‚Baulöwe‘ übersetzen ließe.
Die Endung –aro stammt aus dem römischen Dialekt und findet sich bei vielen Berufsbezeichnungen in Handwerk und Handel. Entstanden war die Wortschöpfung Palazzinaro zwar ebenso als Bezeichnung der Profession, wurde aber bald als abwertend verstanden.

palazzinaro/a: speculatore edilizio; negli anni del boom economico degli anni cinquanta-sessanta i “palazzinari” costruirono interi quartieri a Roma ed in molte altre città italiane.
[Quelle: laputa.it/lexicon/aro/]

Der im Rom des 20. Jahrhunderts so populär gewordene Bautypus Palazzina ist außerhalb Roms nur einem Fachpublikum bekannt. Und selbst in Rom ist der Begriff nicht unbedingt Teil der Alltagssprache. Üblicherweise spricht man, wenn man ein mehrgeschossiges Wohnhaus meint, von Palazzo (also Wohngebäude) oder meist von Condominio (Haus mit Eigentumswohnungen / Eigentümergemeinschaft), bezieht sich also auf die Eigentumsverhältnisse und nicht auf den Bautypus, selbst wenn man zur Miete wohnt.

In heutiger Zeit bezeichnen Begriffe wie Villa und Palazzo ganz normale Wohnhäuser, die nicht entfernt mit dem Prunk oder der Weitläufigkeit von Villen und Palästen zu tun haben: die Villa unifamiliare oder Villetta ist ein Einfamilienhaus, der Palazzo ein mehrgeschossiges Wohngebäude. Und wenn in Rom jemand sagt, lass uns in die Villa gehen, meint er sicherlich die Villa comunale, also den Stadtpark! Denn glücklicherweise ist die große Fläche der Stadt nicht gänzlich bebaut. Es gibt viele und teils sehr große Grünflächen, als öffentliche Parks, sowie bedeutende Ländereien des Vatikanstaats.

Einen guten Eindruck von dem vielen Grün in Rom bekommt man auf einer Radrundfahrt ums Zentrum. Die Ewige Stadt per Fahrrad erkunden? Zugegeben, das ist nicht naheliegend. Aber es lohnt sich sehr und macht großen Spaß! Hier meine Einladung zu Rom per Fahrrad: eine Panorama-Tour rund um das historische Zentrum

Wer schreibt hier?

Maren Paetzold
Maren Paetzold

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